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Abriss eines intakten Gebäudes in Berlin (Foto:Antje Bruno)


Der lange Weg des Umsteuerns zu mehr Nachhaltigkeit beim Bauen

Mehr als 40% der deutschen Treibhausgas-Emissionen/THG (362 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente) wurden einer Studie des BBSR von 2020 zufolge im Bezugsjahr 2014 durch die Herstellung, Errichtung, Modernisierung sowie die Nutzung und den Betrieb von Wohn- und Nichtwohngebäuden einschließlich vor- und nachgelagerter Prozesse verursacht. Nicht eingerechnet sind Emissionen durch Zulieferer im Ausland, die weitere 35 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente verursachten. Allein die Größenordnung dieser Zahl verdeutlicht, dass es in Anbetracht der Pariser Klimaziele und für die angestrebte Klimaneutralität Deutschlands bis zum Jahr 2045 dringenden Handlungsbedarf gibt. Die Erkenntnis, dass der Gebäudesektor dabei eine zentrale Rolle spielen muss und ein enormes Einsparpotential an Energie und Treibhausgasemissionen birgt, fand bereits 2001 Niederschlag in der Verordnung über energiesparenden Wärmeschutz und energiesparende Anlagentechnik bei Gebäuden, Energieeinsparverordnung (EnEV) und wurde 2020 durch das Gebäudeenergiegesetz abgelöst. Bei der Bilanzierung des Energieverbrauchs und der THG-Emissionen hat sich in den letzten Jahren der Fokus vom Energiebedarf im Gebäudebetrieb während der Nutzungsphase zum Bauprozess und den Baumaterialien selbst verschoben. Denn bei der energetischen Bewertung muss der gesamte Lebenszyklus eines Bauwerkes betrachtet – die aufgewendete Energie und entstandenen Emissionen für die ganze Kette des Bauproduktionsprozesses berücksichtigt werden. Das ist in der Vergangenheit nicht geschehen. 

Einen ganzheitlichen Ansatz bei der Ermittlung des Energieaufwands beim Bauen – von der Herstellung und der Instandhaltung bis zum Lebensende der Konstruktion des Gebäudes – empfiehlt auch das Umweltbundesamt und richtet den Blick inzwischen verstärkt auf die Potentiale des Bestandes. Bestandsgebäude werden immer noch zu häufig aus ökonomischen Gründen abgerissen und nicht, weil sie unbrauchbar sind. Die Qualitäten bleiben unberücksichtigt oder werden schlicht übersehen – ein Abbruch lässt sich zudem sogar steuerlich absetzen. Darüber hinaus ist Abbrechen und Neubauen billiger als den Bestand weiterzuentwickeln – genauer gesagt wird es billiger gerechnet, weil die ökologischen Kosten nicht einbezogen werden. Das heißt, es werden nicht die Gesamtkosten der Bauproduktion, inklusive der Umweltkosten von der Baustoffgewinnung bis zum Rückbauprozess eines Bauwerks angesetzt. Das Abrissmaterial ist in der Regel Müll, die in den Baustoffen verbaute Energie, die sogenannte „graue Energie“, geht beim Abbruch von Gebäuden verloren, wenn Baustoffe und Bauelemente durch Verklebung oder irreversible Verbindungen nicht sauber rückgebaut und wiederverwertet werden. Darüber hinaus fallen zusätzliche Emissionen beim Neubau an. Um weniger THG zu emittieren, muss es also darum gehen, die Menge des Mülls im Bauwesen deutlich zu reduzieren – mithin weniger abzureißen und Vorhandenes weiterzuentwickeln. Baustoffe in einen zyklischen Kreislauf zu bringen, vorhandene Ressourcen auszuschöpfen und die natürlichen zu schonen, um am Ende Mensch und Umwelt bei der Erzeugung und Bewirtschaftung von Abfällen zu schützen, ist das Ziel des deutschen Kreislaufwirtschaftsgesetzes von 2012. In dieser Hinsicht ist das Bauwesen noch nicht sehr weit gekommen, denn die Gemengelage ist komplex und gebrauchte Bauteile verlieren ihre bauaufsichtliche Zulassung. Daraus ergeben sich Unsicherheiten in Bezug auf die Einhaltung von Vorschriften, Normen und Standards für Brand-, Schall- und Wärmeschutz und die Haftungsrisiken für die Ausführung nicht standardisierter wiederverwendeter Bauelemente. Die Gebäudetechnik wird immer komplizierter, viele Bauprojekte auch ohne Recycling schwer steuerbar. Auch das trägt dazu bei, dass zyklisches Bauen in Deutschland bisher ein Nischendasein fristest. Es bedeutet mehr Aufwand an Zeit und Kosten, zudem wirtschaftliche Unsicherheit – und das in einer Branche, die per se unter Kostendruck steht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass es im trägen und komplizierten deutschen Bauwesen bisher zu wenig Engagement in diese Richtung gibt.


Der Leitbildwandel ist ein langwieriger und komplexer Prozess – Ein Blick zurück

Bis vor wenigen Jahren hatten auch außerhalb Deutschlands nur wenige Architekten einen umfassend nachhaltigen Ansatz auf der Agenda, wie z.B. die 2021 mit dem Pritzker-Preis ausgezeichneten französischen Architekturschaffenden Lacaton/Vasall, die in ihrer langen Karriere seit den seit 80er Jahren noch kein einziges Gebäude abgerissen haben, stattdessen auf intelligente Weise und sozial verträglich das Vorgefundene weiterbauen. Ihr Ansatz des Wertschätzens vermeintlich unbrauchbarer Architekturen und des achtsamen Umgangs damit zeigt einen vom üblichen abweichendes Konzept auf:
 „The pre-existing has value if you take the time and effort to look at it carefully. In fact, it's a question of observation, of approaching a place with fresh eyes, attention and precision…to understand the values and the lacks, and to see how we can change the situation while keeping all the values of what is already there.” (Auszug aus der Preisrede der Architekten)

Der Pritzker-Preis 2021 war ein Weckruf für viele Architektinnen und Architekten – keine ikonischen Leuchttürme, sondern bescheidene Zurücknahme und Einsetzen für ökologisch-soziale Werte im Sinne des größeren Ganzen. Denn anstatt kreative architektonische Lösungen im Umgang mit dem Bestand zu suchen, wird immer noch scheinbar nicht verwertbare Bausubstanz überwiegend abgerissen und ein vollständiger Neubau favorisiert. Dabei gibt es erst seit wenigen Jahren Ansätze mit mehr Holz zu bauen oder in alternativen Konstruktionen anstelle von Beton als Rohbau zu denken. Der unbequeme Weg des Wandels beim Bauen wurde in Deutschland, von Ausnahmen abgesehen, erst in den letzten Jahren konsequenter beschritten. Auf der Ebene der Deklarationen wurde schon vor mehr als zehn Jahren auf die Erfordernisse eines Wandels in der Branche hingewiesen.

Gemeinsam mit berufsständischen Organisationen aus Ingenieursbaukunst und Stadtplanung verabschiedeten mehrere Verbände der deutschen Architektinnen und Architekten 2009 das Manifest „Vernunft für die Welt”, für eine zukunftsfähige Architektur und Ingenieursbaukunst (www.klima-manifest.de). Auf Basis der Erkenntnis des menschengemachten Klimawandels wird darin mehr Mut, Neugierde und die Entschlossenheit aller gesellschaftlicher Gruppen zum Umsteuern angemahnt und die besondere Verantwortung der Bauschaffenden für den notwendigen Wandel zu mehr Nachhaltigkeit in der Planung und Gestaltung von Bauwerken und Städten betont. Gefordert werden dafür Emissionsvermeidung, Einsparungen beim Energie-, Ressourcen-, und Bodenverbrauch, Regionalität, Kreislaufwirtschaft, ökologische Prinzipien beim Bauen sowie ein geschärftes Bewusstsein für nachhaltige Entwicklung und Nachhaltigkeit als Leitprinzip im Bauwesen. 
Mit der griffigen Formel, Reduce, Reuse, Recycle’ thematisierte der Architekt Muck Petzet als Kurator des deutschen Ausstellungsbeitrages auf der Architektur-Biennale in Venedig schon 2012 die Wertschätzung des Baubestandes und konstatierte programmatisch: 
„Der Gebäudebestand … muss als wichtige energetische, kulturelle, soziale und architektonische Ressource für die Gestaltung unserer Zukunft erkannt und eine grundsätzlich affirmative Haltung gegenüber dem Vorhandenen entwickelt werden. Reduce / Reuse / Recycle steht als erfolgreicher Slogan für die Umwertung von Müll zu Wertstoff: Die 3 Rs bilden die ‚Abfall-Vermeidungshierarchie‘. An erster Stelle steht mit ‚Reduce‘ die Verringerung des Abfallvolumens: die Abfallvermeidung. Danach folgt ‚Reuse‘: die möglichst direkte Weiterverwendung. Erst an dritter Stelle kommt die materielle Umformung durch ‚Recycling‘. Je geringer die Änderung des Ausgangsprodukts, desto besser ist also der Prozess. Durch die Übertragung dieser Logik auf Architektur erhält man ein mögliches Wertesystem zum Umgang mit Bestandsgebäuden: Je weniger Änderungen gemacht werden, und je weniger Energie aufgewendet wird, umso effektiver ist die Umbau-Strategie.“ 

Damit war das Thema Transformation in der Architektur an prominenter Stelle adressiert worden. Doch erst im Mai 2019 hat der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten/ BDA ein eigenes wegweisendes Papier – Das Haus der Erde. Positionen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land – das als dringlicher Appell an den eigenen Berufsstand und die Stadtplaner:innen verfasst ist, auf den Weg gebracht. Darin wird eine radikale Abkehr vom Wachstumsgedanken, mehr Mut und Verantwortung, politisches Denken und Handeln von den Planer:innen eingefordert. Das Postulat im BDA-Positionspapier ist angesichts der planetaren Grenzen eindeutig: „Dem Erhalt des Bestehenden kommt Priorität zu.“ Der BDA ruft dazu auf, den Gewinn der ökologischen Wende zu betonen und einen Perspektivwechsel in der Architektur vorzunehmen: „Für das Vorhandene aktiv Sorge zu tragen, das Bestehende mit Ideen für ein zukunftsfähiges Zusammenleben weiterzubauen, ist Kern einer reduktiven Strategie in der Architektur.“ Unter der Fragestellung wie wir künftig leben wollen, werden positive Erzählungen für ein neues Zukunftsbild, neue Mobilitätsformen für die ,Stadt der kurzen Wege’, eine Kultur des Experimentierens und einen Paradigmenwechsel im Material- und Energieeinsatz zur vollständigen Entkarbonisierung im Bauwesen postuliert.

Im Mai 2021 folgte ein weiteres Manifest: Das Haus der Erde – politisch handeln. Politische Aufforderungen für eine klimagerechte Architektur in Stadt und Land. In dem dezidiert politischen Papier wird ein neues Rollenverständnis von der Architektenschaft und mehr gesellschaftlich-politische Verantwortung beim Bauen und Planen im Hinblick auf die Klimaziele angemahnt. Das Spektrum der Forderungen mit konkreten, an die Politik adressierten Umsetzungsmaßnahmen, umfasst neue Denk- und Handlungsweisen für die Architektur, Experimentierräume, umfassende Bestandswahrung und Förderung des zirkulären Bauens mit weniger Technik, wie auch eine gemeinwohlorientierte Flächen- und Bodenpolitik. 
Es mangelt an Anreizen und Wertschätzung für das Vorgefundene 
Auch aus wirtschaftlichen Gründen wird der Bestand in Bezug auf seine Qualitäten oft nicht eingehend untersucht – das ,Alte’ wird oft nur als wertvoll befunden, wenn es gewisse Kriterien erfüllt und aus bestimmten Bauperioden stammt. Es fehlt an ökonomischen Anreizen und Zeit, den Genius loci zu erforschen wie auch an Interesse genauer hinzusehen, was entstehen könnte am Ort der baulichen Intervention. Mangelnde Kreativität oder der Wille, bestehende Bauten konzeptionell einzubeziehen spielen aber auch eine Rolle. Dabei bergen gerade schwierige räumliche Situationen und komplizierte bauliche Ensembles ein hohes architektonisches Potential. Das betont auch Reiner Nagel, Vorstandsvorsitzender der Bundesstiftung Baukultur im Editorial des Januar-Newsletters 2022:
„Auch wenn viele bauliche Herausforderungen scheinbar nur mit Neubau zu lösen sind, so liegt doch ein großes Potential der umwelt- und gesellschaftspolitischen Nachhaltigkeit im Bestand. Wenn es uns gelingt, in der sogenannten Grauen Energie die Seele des Bauwerks zu erkennen, können wir sie in Goldene Energie ummünzen. Das ist nicht nur in der Sache effizient und lösungsorientiert, sondern beflügelt und produziert schöpferische Schaffensfreude.“

Neue Wege im architektonischen Umgang mit dem Vorhandenen und in der Baustoffproduktion sind für diesen transformativen Ansatz unumgänglich. Planer:innen müssen grundsätzlich, jenseits von einzelnen Vorzeigeprojekten, einen neuen ökologischeren Umgang mit den baulichen Ressourcen entwickeln. Solange Architektenhonorare aber an der Bausumme orientiert sind, gibt es kaum Anreize für Suffizienzstrategien – das, was schon da ist, wertschätzend anzunehmen und mit so wenig Neubau wie möglich zu modifizieren – mit dem Ziel umbauten Raum, Flächen und dadurch Material und Emissionen zu sparen. In der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure/ HOAI findet der zeitliche Extraaufwand durch den Einsatz von wiederverwendeten Bauteilen oder Bauwerksumbau anstelle eines Abbruchs und anschließendem Neubau bisher keine positive Berücksichtigung, so dass zumindest ökonomische Interessen einem derartigen ökologischen Ansatz und Handeln entgegenstehen. Zudem ist die Bauwirtschaft in Deutschland in ihrer ganzen Komplexität eine Schlüsselindustrie und Konjunkturmotor, in der viele beschäftigt sind und an dem viele verdienen. Dennoch ist es dringend geboten, insgesamt weniger neu zu bauen und den Gebäudebestand umfassend zu nutzen, um den anfallenden Müll der Baubranche, der in Deutschland immerhin 61 % des gesamten Müllaufkommens beträgt, deutlich zu reduzieren (BMU 2020). Der Bauabbruch wird in der Regel auch nicht als gleichwertiger Baustoff im Neubau wiederverwertet, sondern überwiegend im Straßenbau downgecycelt, was nicht nachhaltig ist. Fehlende digitale Erfassung, Prüfung und Zertifizierung des Materials sind hier nur die oberflächlichen Probleme des erforderlichen strukturellen Wandels im Bauwesen. Aber Planer:innen, Architekt:innen und Ingenieur:innen können die Bauwende nicht allein herbeiführen. Dazu bedarf es Transformationen auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene. Die Regelwerke für das Bauwesen müssen umgeschrieben werden – Gesetze, Förderlogiken und Planungsverfahren sind auf den Neubau ausgerichtet. Es bedarf anderer Bewertungssysteme durch gesellschaftliches Umdenken und ein verändertes Konsumverhalten insgesamt. Neue Narrative sind gefragt. 


Wie umsteuern?

„Welche Art von Transformation brauchen wir?“ fragte der Klimaforscher Prof. Hans Joachim Schellnhuber (ehem. Direktor des Potsdam Institut für Klimafolgenforschung IASS) in einer Veranstaltung der Bundesarchitektenkammer/BAK zum Neuen Europäischen Bauhaus am 27. Mai 2021. Um die Klimaziele von Paris zu erreichen, hat die Europäische Kommission das Neue Europäische Bauhaus initiiert. Dahinter steht der hehre Ansatz, nachhaltiges Bauen nicht allein als technische, sondern auch als gemeinsame kulturelle Aufgabe zu verstehen im Sinne eines Wandels hin zu einer demokratischen, freien und inklusiven Gesellschaft. Schellnhuber gehört zu den Mahnern der ersten Stunde und fordert wie der Architekt Muck Petzet die gesamte Baubranche zur radikalen Kehrtwende und zum Handeln nach dem ,cradle to cradle’ Prinzip (von der Wiege zur Wiege) auf – Wertschöpfung, Bauzyklen, Energiekosten ganzheitlich zu denken. „Ich rufe den Untergang des konventionellen Bauens aus!“ proklamierte Schellnhuber an die Architekt:innen gerichtet in der Veranstaltung, um die Dringlichkeit des Umsteuerns zu verdeutlichen.
„Verbietet das Bauen“ verlangt der Architekt und Publizist Daniel Furhop mit seinem gleichnamigen Buchtitel ähnlich dogmatisch und benennt eine Reihe von alternativen Maßnahmen. Unter den Rubriken Modernisieren statt Abreißen, Altes und Neues richtig bewerten, Leerstand kennen/nutzen/beseitigen adressiert er Beispiele und formuliert Strategien wie (Anti-)Stadtmarketing, um über die Abwertung von beliebten Regionen bzw. die Aufwertung von weniger beliebten Regionen einen Ausgleich im Hinblick auf die Diskrepanz zwischen dem baulichen Überangebot einerseits und Mangel an anderen Orten anzuregen. Nichtbauen, umbauen und umdenken – weniger Fläche und Platz verbrauchen, mithin anders wohnen, anders zusammenleben und arbeiten sowie mehr Flexibilität lauten seine konkreten Vorschläge, zu denen er zahlreiche Anregungen zur Umsetzung macht. Ungenutzte Potentiale in öffentlichen Gebäuden, z.B. Foyers von Theatern, Konzerthäusern und repräsentativen institutionellen Bauten könnten durch Mehrfachnutzungen außerhalb der Primarnutzungsöffnungszeit durch ergänzende Bespielung ausgeschöpft werden. 
Dass Abriss möglichst vollständig vermieden, auf jeden Fall aber maximal reguliert werden sollte, nachwachsende und ökologische Baustoffe stärker eingesetzt werden müssen, wurde auch auf der Fachkonferenz GemeinGut Stadt, die gemeinsam vom Netzwerk Immovielien und dem Wohnbund, e.V. am 11. Juni 2021 veranstaltet wurde, betont. Wie eine Abriss-Regulierung erfolgen kann, wie Anreize für Architekt:innen, Auftraggeber:innen und die Bauwirtschaft geschaffen werden können – dazu sind noch viele Fragen offen. Besonders dringlich ist eine stärkere öffentliche Förderung, auch durch entsprechende Wettbewerbe, und Beratung nicht nur zu energetischen Belangen, sondern vor allem auch zu den Baustoffen selbst. Neben den zusätzlichen Kosten und der Problematik der Zulassung neuer Baustoffe fehlt es auch an Erfahrung mit der Verarbeitung von Recyclaten. Für die Lösung dieser Fragen wird die Bauwirtschaft dringend gebraucht. Eine zunehmende Zahl an Unternehmen, die sich auf zirkuläres bauen spezialisiert haben und diverse regionale Bauteilbörsen, sind auch beratend tätig. Das Informationsportal nachhaltiges Bauen des Bundesbauministeriums ÖKOBAUDAT Bauteilbörse, stellt umfassende Informationen bereit. Pionierarbeit leistet inzwischen auch die Architektenschaft selbst, wie z.B. das Baseler baubüro insitu, das mit seinem Projekt K.118 in Winterthur auf der Architektur-Biennale in Venedig 2021 den europäischen wie auch den globalen Gold Award der Holcim Foundation for Sustainable Construction erhalten hat. Dieses und weitere Projekte des Büros weisen die Richtung.
Ohne die Bauwirtschaft können Planer:innen nicht viel ausrichten. 

Denn für eine umfassende Transformation im Bauwesen ist nicht nur ein Emissions-Katalog für Baustoffe, sondern auch die Akzeptanz der Bauwirtschaft für eine neue Umbaukultur ebenso wie ein gesellschaftlicher Wertewandel dringend erforderlich. Aber es gibt Engagement in der Branche. Unter dem Titel ,Auf dem Weg zur Klimaneutralität’ haben sich im Mai 2021 wesentliche Teile der Wertschöpfungskette zur Klimarunde BAU zusammengeschlossen, um in einem laufenden Diskussionsprozess die Potenziale zur Einsparung von Treibhausgasen beim Planen und Bauen sowie die Steigerung der Ressourceneffizienz zu erörtern, voneinander zu lernen und Ansprechpartner der Politik zu sein. Unter den Akteuren, die das Ziel der Klimaneutralität und umfassende Nachhaltigkeit im Bausektor bis 2045 anvisieren, sind wichtige Verbände und Organisationen des Baugewerbes und der Bauindustrie, die Kammern der Architekt:innen und Ingenieur:innen, und sogar der Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie. Um die tatsächlichen Umweltauswirkungen von Bauwerken bewerten zu können, fordert auch die Klimarunde BAU anstelle der bisherigen Fokussierung auf die Emissionen und Energieeffizienz im Betrieb von Gebäuden eine Betrachtung der CO2/THG-Emissionen über den gesamten Lebenszyklus – von der Herstellung und Transport der Bauprodukte über die Errichtung und Nutzung der Gebäude bis zum Abbruch und zur Entsorgung. Eine solche Bilanzierung generiert Erkenntnisse, wo in dem Prozess am meisten emittiert und eingespart werden kann. Neben der Lebenszyklusbetrachtung sind Technologieoffenheit, ein baustoffunabhängiger Wettbewerb für nachhaltiges Bauen und eine höhere Sanierungsrate relevante Strategien zu mehr Klimaverträglichkeit im Bauwesen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch das Bauen mit Baustoffen und Bauelementen aus Rückbauprozessen lokaler bzw. regionaler Herkunft. Das erfordert allerdings nicht nur digitale Baukataloge, die erst seit kurzer Zeit entstehen, sondern auch ein hohes Maß an Flexibilität bei der Planung und Gestaltung. 

Baukulturelle Qualität braucht politische und finanzielle Förderung

Den Wandel erschwerend kommt hinzu, dass sich das Bauwesen in den letzten Dekaden massiv verändert hat. Die Neoliberalisierung in der Bau- und Stadtproduktion hat zu einer umfassenden Ökonomisierung des Bauwesens geführt, die eine Orientierung auf andere Werte nicht eben erleichtert. Wolfgang Pehnt machte beim Symposium „Metamorphosen – Stadt zwischen Geschichte und Gewissen“ in der Berliner Akademie der Künste am 28./29. Mai 2021 in seinem Vortrag auf die verloren gegangene Qualität beim Planen und Bauen aufmerksam. Dabei ist es zumindest in der Fachwelt unumstritten, dass sorgfältig geplante Bauten aus naturbasierten Baumaterialien problemlos altern und auch am Ende der Abschreibungszeit noch werthaltig sind. Man denke dabei beispielsweise an zum Teil jahrhundertealte Bauwerke, die keineswegs an Schönheit oder Wert verloren, sondern vielmehr dazu gewonnen haben.
Mehr Baukultur ist auch das Kernanliegen der Bundesstiftung Baukultur, die im Mai 2021 zusammen mit dem Institut für Corporate Governance in der deutschen Immobilienwirtschaft (ICG) und mit Unterstützung aus der Immobilien- und Wohnungswirtschaft einen Kodex für Baukultur auf den Weg gebracht. „Baukultur wird zum anerkannten Ziel der Immobilienbranche“ lautet der Titel der allerdings nur freiwilligen Selbstverpflichtung für die verantwortungsvolle Aufgabenwahrnehmung von Unternehmen der Immobilienwirtschaft. Diese Selbstverpflichtung, mit den postulierten Zielen ökologische Nachhaltigkeit, soziale Verantwortung und ganzheitliche Baukultur, sowie Prozessorientierung und einem kooperativen Ansatz, wäre, wenn sie tatsächlich so eingehalten würde, ein weitreichender Schritt in Richtung Klimaschutz. Dass sich Baukultur auch für die Immobilienwirtschaft auszahlt und dass die Wertschätzung historischer Bestände zwar als „relevant oder mindestens bedingt relevant“ betrachtet wird, dennoch nur etwa 50% der Unternehmen dem entsprechend handelt (Umfrage der Bundesstiftung/ Pressemitteilung vom 17.05.21), zeigt, dass noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten ist.
Wenn man das Verhältnis von Bestands- und Neubauten in Deutschland betrachtet – unsere Städte sind quasi fertiggebaut – ist es unstrittig, dass die größten Einsparungen im Sinne des Klimaschutzes durch die Ertüchtigung des Bestandes erzielt werden können. Und hier wird eines der größten Probleme für die Bauwende sichtbar: Wer trägt die Kosten für die anstehenden energetischen Sanierungen – bei Verzicht auf Polystyrol=Sondermüll an den Fassaden und fossile Energieträger für den technischen Gebäudebetrieb? 
Unverhandelbar sollte sein, dass die Finanzierung der Energiewende im Mietwohnungsbau, sowohl im Bestand als auch im Neubau, kostenneutral für Mieter bzw. sozialverträglich gestaltet werden muss. Der Staat ist hier in der Pflicht den politischen Rahmen vorzugeben und mit passender Förderung den großen Umbau in Richtung der geforderten Klimaneutralität in Deutschland für 2045 voranzutreiben. 

Der Klimawandel kann nur im Globalen Süden aufgehalten werden

Wir brauchen also nicht nur ein Umsteuern im architektonischen Handeln, einen tiefgreifenden Umbau der Bauwirtschaft und politisches Handeln, sondern auch einen grundlegenden gesellschaftlichen Wertewandel sowie ein Umdenken auf allen Ebenen, damit die Transformation in Richtung Klimaneutralität gelingt. Diese große Transformation, die sicher eine größere Umwälzung darstellt, als die der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, muss schnell und global erfolgen. Denn vor allem im Globalen Süden befinden sich die größten und schnell wachsenden städtischen Agglomerationen mit den meisten Einwohnern, die in nicht allzu ferner Zukunft technologisch und im Hinblick auf die THG-Emissionen an den globalen Norden anschließen werden. Zudem sind die Urbanisierungsprozesse in weiten Teilen Asiens und Afrikas noch lange nicht abgeschlossen, ein großer Teil der Städte dort noch nicht gebaut. Bis 2050 wird sich die Zahl der Stadtbewohner auf dem Planeten verdoppeln.
Mit welcher Rasanz Verstädterungsprozesse und damit Emissionszuwächse erfolgen können, hat China in den letzten Jahrzehnten vorgeführt. Chinas Verbrauch an Stahl und Beton der letzten drei Jahrzehnte entspricht dem der USA im gesamten 19. Jahrhundert. Dem werden die Megastädte des 21. Jahrhunderts, vor allem für die bevölkerungsreichen und weiter stark wachsenden Nationen des Globalen Südens, folgen. Global betrachtet werde die Stadt New York in den nächsten 40 Jahren 500 Mal neu gebaut werden – jeden Monat einmal (Prof. Estelle Herlyn, FOM für Oekonomie und Management Düsseldorf).
Deshalb kann die Weltgesellschaft nur gemeinsam die Klimaziele erreichen. Denn im Globalen Norden ist der Urbanisierungsprozess weitgehend abgeschlossen. Es sind aber die Emissionen des Globalen Nordens seit der Industrialisierung, die zum gegenwärtigen Klimanotstand geführt haben, weshalb wir, die überprivilegierten Gesellschaften, in einer historischen Bringeschuld stehen.

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