Gegenwärtig gibt es 69,1 Millionen Autos in Deutschland (Kraftfahrtbundesamt, Stand 1.1.2024). Vor allem der motorisierte Individualverkehr auf den großen Magistralen der Stadt und der übergeordnete Pendelverkehr auf den Ein- und Ausfallstraßen schränkt die Lebensqualität angrenzender Quartiere zunehmend ein. Seit der Nachkriegszeit ist die Stadtplanung auf die Förderung der Automobilität ausgerichtet. Stark befahrene Straßen wurden zu öden Transiträumen degradiert. Hohe Umweltbelastungen durch Abgase, Feinstaub und Lärm gefährden auch die Anwohnenden in angrenzenden Wohnquartieren. Das Leben zieht sich aus diesen Straßenräumen zurück, der öffentliche Raum wird vernachlässigt und gerät in eine Abwärtsspirale.
Dabei sind öffentliche Räume das wichtigste Gemeingut großer Städte. Historisch betrachtet, waren Straßenräume seit den ersten Stadtgründungen vor allem Handelsorte, Orte gesellschaftlicher Begegnung, sozialer Aktivitäten und auch der Konflikte. Orte für zwangloses Treffen und soziales Miteinander fehlen besonders den Menschen, die auf geringen Flächen leben, oder von Vereinsamung betroffen sind. Zunehmender innerstädtischer Verwertungsdruck lässt diese Räume schwinden. Anhaltender Zuzug in die großen Städte und attraktiven Mittelstädte erfordern neben immer mehr Flächen für Verkehr, auch solche für Wohnen, Grün und Erholung. Die Straßenverkehrsordnung hat bisher den fließenden Verkehr gegenüber dem Gesundheits- und Klimaschutz oder städtebaulichen Aspekten bevorzugt und damit die Automobilität privilegiert.
Was gesellschaftlich verloren geht, wenn öffentliche Räume schwinden, entzieht sich einer breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung. Öffentliche Räume sind urdemokratische Möglichkeitsräume für alle gesellschaftliche Gruppen. Sie sind die Basis für gesellschaftliche Interaktion, politische, wirtschaftliche und soziale Aktivitäten. Als niedrigschwellige Orte lokaldemokratischer Aushandlung ermöglichen sie gemeinwesenorientierte Nutzungen und wirken dabei gesellschaftlicher Spaltung und Vereinsamung entgegen. Es sind Räume, wo sich alle Personen – jenseits von race, class und gender – ohne Konsumzwang treffen, aufhalten, aktiv sein und sich dabei sicher und wohl fühlen können sollten. Mit oder ohne Verkehrsmittel. Deshalb ist es wichtig, dass diese elementaren räumlichen Bausteine unserer Gemeinwesen einladend und attraktiv zum Aufenthalt und zur Interaktion gestaltet sind. Durch die Privilegierung des Autos in Verkehrspolitik und Stadtplanung werden die sozialräumlichen Potentiale öffentlicher Räume aber massiv beschnitten.
Das Auto ist der Tod der Stadt – waren sich schon die Stadtplaner der Zwanzigerjahre bewusst.
Als Reaktion auf die dicht bebauten, krankmachenden Quartiere der Gründerzeit, träumten Stadtplaner nach dem ersten Weltkrieg von weiten aufgelockerten und gegliederten Stadtlandschaften, die vom fahrenden Auto aus erlebt werden konnten. Die wirtschaftliche Not nach dem Ersten Weltkrieg und die Zäsur des Zweiten Weltkriegs verzögerten die Entwicklung und den gesellschaftlichen Aufstieg der Automobilität. Aber schon die Nazis verfolgten in den dreißiger Jahren die Idee des Volks-Autos als Massentransportmittel und legten die verkehrsrechtlichen Grundlagen dafür (u.a. die Reichsgaragenverordnung, die Erlaubnis zum Abstellen von Privatfahrzeugen im öffentlichen Raum, die Stellplatznachweispflicht), die bis heute fortbestehen. Auf der Ebene der Planung legte die Charta von Athen 1933 mit dem Leitbild der funktionsgetrennten Stadt die theoretischen Grundlagen für die autozentrierte Stadt. Bis in die fünfziger Jahre dominierten aber noch Fußgänger:innen und Radfahrer:innen die deutschen Straßen. Erst die Massenmotorisierung durch den Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg, steigende Unfallzahlen und die Priorisierung des Autoverkehrs in der Stadtplanung vertrieben das städtische Alltagsleben von der Straße.
Unter dem Motto ,freie Fahrt für freie Bürger‘ wurde Automobilität massiv politisch und finanziell gefördert. Nach der Zäsur des Krieges versprach das Auto Freiheit, kompensierte gesellschaftliche Enttäuschung und Verunsicherung. Ermöglicht durch das Wirtschaftswunder, konsolidierte sich in der BRD der Traum vom Einfamilienhaus im Grünen. Länger werdende Distanzen zwischen Wohn,- Freizeit,- und Arbeitsort konnten durch den massiven Autobahnausbau in Westdeutschland immer schneller zurückgelegt werden. Der Raum verlor an Bedeutung. Die Straße wurde zum Transitraum für den motorisierten Individualverkehr.
Tabula Rasa – der Wunsch nach einem politischen und städtebaulichen Neuanfang nach dem Krieg.
Der Nachkriegswiederaufbau ordneten alle Mobilitätsformen der Automobilität unter. Für den Bau der Stadtautobahnen und deren Zubringer wurden in den kriegszerstörten deutschen Städten enorme Flächen in Anspruch genommen. Nicht nur zerstörte Quartiere wurden für die neuen Autobahnen und Schnellstraßen überbaut, auch intakte historische Stadtstrukturen, Plätze und Quartiere wurden zerschnitten und sozialräumlich durch Verkehrsschneisen zerstört (in Westberlin bspw der Rathenauplatz, Breitenbachplatz, Heidelberger Platz, Bundesplatz). Man spricht von der zweifachen Zerstörung der Städte – erst durch den Krieg, dann durch den autozentrierten Stadtumbau. Gründerzeitliche Architekturen und Stadtstrukturen des späten 19. Jahrhunderts galten als rückwärtsgewandt und baulich-politischer Ausdruck der Kaiserzeit, die in der Gestalt der Stadt überwunden werden sollte. Der politische Neuanfang fand seine Entsprechung in einer städtebaulichen Neuordnung. Die Kriegszerstörungen stellten eine Chance dar, mit dem Konzept der funktionsgetrennten Stadt (Charta von Athen von 1933) an die Vorkriegszeit anzuknüpfen und nach dem „Leitbild der autogerechten Stadt“ umzugestalten.
Nach zwei Jahrzehnten Stadtumbau setzte in den siebziger Jahren ein breites gesellschaftliches Umdenken ein. Aufkommende gesellschaftliche Sehnsucht nach geschichtlicher Verwurzelung, neue Wertschätzung für die Qualitäten der Stadt des 19. Jahrhunderts und die zu Tage tretenden städtebaulichen Defizite der modernen funktionsgetrennten Stadt veränderten die gesellschaftliche Bewertung des städtebaulichen Erbes. Das Engagement von Bürgerinitiativen verhinderte, dass die Stadtzerstörungen für die autozentrierte Stadt in gleicher Konsequenz fortgesetzt wurde. So wurde bspw die Überbauung des Oranienplatzes in Berlin durch ein Autobahnkreuz verhindert.
Bisher kaum wahrnehmbar Leitbildwandel In Deutschland
Trotz der zeitweisen Zurückdrängung des Stadtautobahnbaus seit den 1970er Jahren hat die Automobilität in den letzten Jahrzehnten unser Leben immer stärker durchdrungen und bestimmt. Inzwischen sind die Auswirkungen dieser autodominierten Lebensweise überdeutlich. Das gesellschaftliche Zusammenleben, die menschliche und die planetare Gesundheit sind dadurch bedroht – auch wenn die Zusammenhänge gern ausgeblendet werden. Gegenmodelle für eine andere Leitbilder der Stadtentwicklung, bspw die Stadt der kurzen Wege‘ gibt es schon seit Jahrzehnten, konnten sich aber nicht durchsetzen. Dennoch hat die nationale Stadtentwicklungspolitik mit der Leipzig Charta von 2007 und der Hervorhebung der Bedeutung des Gemeinwohls in der Stadtentwicklung in der Neuen Leipzig Charta von 2020 zumindest auf der theoretischen Ebene eine Richtungsänderung vollzogen. Die Neue Leipzig Charta wie auch das Konzept der 15-Minuten-Stadt räumen dem Fuß- und Radverkehr wie auch dem Umweltverbund deutlichen Vorrang vor der Automobilität ein. Abgesehen von der modellhaften Umsetzung in einzelnen Kommunen und geförderten Reallaborprojekten in Kooperation mit Zivilgesellschaft, lässt die breite praktische Umsetzung auf Stadtebene noch auf sich warten. Pfadabhängigkeiten und gesellschaftliche Behaarungskräfte verhindern einen grundlegenden Wandel im Städtebau.
Während in Barcelona, Wien, Paris, u.w. die Politik den Transformationsprozess anstößt, kommen in Deutschland die Impulse fast immer aus der Bevölkerung. Dem Vorbild der Superblocks aus Barcelona folgend, findet auch in Deutschland das Modell der Kiezblocks immer mehr zivilgesellschaftliche Befürworter, die sich in Initiativen zusammenschließen und Anträge auf Umwandlung eines Wohnquartiers in die kommunalen Parlamente einbringen. Dabei geht es nicht nur um Verkehrsberuhigung und Sperrung eines Wohnblocks für den Durchgangsverkehr, sondern ganz konkret auch um die Rückgewinnung des Raumes für menschliches Leben. Durch Umwandlung von Parkplätzen und anderen versiegelten Flächen entstehen begrünte Flächen zur Klimaanpassung und menschenzentrierte, gesundheitsfördernde, sichere Räume für Fuß- und Radverkehr, für soziales Miteinander, Sport, Spiel, und Gastronomie. Trotz enormer Steigerung der Lebensqualität im Quartier und obwohl alle Gebäude weiterhin mit dem Auto, für Notdienste, Anlieferung, Ver- und Entsorgungsfahrzeuge erreichbar bleiben, sind nicht alle Anwohnenden bereit, dafür auf Parkplätze zu verzichten. Temporäre Umgestaltungen ermöglichen aber neue Raumerlebnisse und bewirken, dass aus Zögerern und Gegnern oftmals Befürworter werden.
Jede temporär oder dauerhaft autofrei umgewandelte Straße macht erlebbar, wie viel Lebensraum Autos einnehmen.
Verkehrsberuhigte und begrünte öffentliche Räume sind gesundheits- und gemeinschaftsfördernd, stärken die soziale Nachhaltigkeit, ökologische Resilienz und demokratische Kultur. Klimaangepasste und vom Verkehr befreite Wohnblocks und Quartiere befördern sowohl die planetare als auch die menschliche Gesundheit und Sicherheit. Geringere Belastungen durch Verkehrsemissionen (v.a. Feinstaub, Stickoxide), Lärm und Hitze fördern nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Aufenthaltsqualität und Lebenszufriedenheit der Menschen vor Ort. Sogar die Wirtschaft profitiert im Hinblick auf die Anwerbung von Fachkräften von attraktiven und lebenswerten öffentlichen Stadträumen und Wohnquartieren. Dort sind auch steigende Kundenfrequenzen und Umsätze im Einzelhandel zu verzeichnen – auch durch wegfallende Parkplätze, wie eine Studie des Bundesministeriums für Verkehr und Digitalisierung belegt.
Die Verkehrsemissionen sind in den letzten 25 Jahren kaum gesunken. Das Einhalten der Klimaziele bedeutet für den Verkehrssektor eine Reduktion des Autoverkehrs um 25-33 % (Deutsches Institut für Urbanistik). An den Umweltverbund angeschlossene und am menschlichen Maßstab ausgerichtete städtische Wohnquartiere können dafür sorgen, dass vor allem Familien sich gegen ein Wohnen im suburbanen Raum entscheiden und damit immer mehr Pendelverkehr verhindert wird.
Für die Mobilitätswende mit einem umweltfreundlichen multimodalen und sozialgerechten Mobilitätsangebot müssen die bestehenden Verkehrsinfrastrukturen grundsätzlich transformiert werden. Die Niederlande und Dänemark zeigen, dass das Angebot sicherer und attraktiver Verkehrsinfrastrukturen die Menschen zum Umstieg bewegt – dies setzt allerdings den verkehrspolitischen Willen dazu und die entsprechende finanzielle Unterfütterung voraus.
Und: Ohne ein Ende der autozentrierten, verkehrserzeugenden Stadt- und Siedlungsplanung ist die Mobilitätswende auch nicht zu schaffen. Neue Wohngebiete brauchen zuallererst eine gute Anbindung an den Umweltverbund. Bestehende Wohngebiete können durch Kiezblocks und andere transformative Instrumente und Konzepte in klimaangepasste und gleichzeitig lebenswerte, gesundheitsfördernde und menschenzentrierte Quartiere umgewandelt werden. Kiez- und Superblocks (sowie andere transformative Interventionen im öffentlichen Raum, bspw. Taktiler Urbanismus) sind effektive Instrumente der Verkehrsberuhigung und gesellschaftlicher Stadtgestaltung, die im Reallabor noch weiter erprobt und skaliert werden müssen, um in der Breite Wirkung zu erzielen.
Ohne Anreize steigt aber niemand aus dem Auto
Es braucht Anreize für eine weniger entfernungsintensive Lebensweise, einen attraktiven, funktionierenden öffentlichen Verkehr und einen Privilegien- und Subventionsabbau für Automobilität (zB. Dienstwagenprivileg, Pendlerpauschale, zu billiges und kostenloses Parken, Diesel-Subventionierung). Um Menschen zur Veränderung ihres Mobilitätsverhaltens zu bewegen, müssen städtische Wohnquartiere menschenzentriert, grün und qualitätvoll gestaltet werden und gut öffentlich angebunden, damit das Auto als die schlechtere Wahl betrachtet wird. Darüber hinaus muss eine Nahversorgung im Sinne der Stadt der kurzen Wege möglich sein.
Verhaltensveränderungen brauchen eine Motivation – Vorreiter und Pionierprojekte, die Machbarkeit aufzeigen und Lust auf Veränderung wecken. Die Erprobung von Kiezblöcken und Konzepten wie die „15-Minuten-Stadt“ motivieren, gesellschaftliche Leitbilder und Vorstellungen zu hinterfragen und den Wandel als Chance zu begreifen. Dennoch brauchen diese umfassenden Transformationsprozesse viel Zeit und diskursive Räume mit professioneller Moderation. Ein gesellschaftlicher Dialog ist erforderlich – auch über zukunftsfähiges (städtisches) Leben in Zeiten des Klimawandels.
Vor allem internationale Beispiele städtischer Verkehrstransformation machen die Potenziale der Verkehrswende sichtbar: von der Umnutzung einzelner Parkplätze und Fahrspuren für den motorisierten Verkehr und der Restrukturierung von Quartieren bis zum Autobahn-Rückbau. Rückgebaute Stadtautobahnen bergen ein enormes Potential, vor allem für stark verdichtete metropolitane Räume – in Seoul wurden in den letzten 20 Jahren 15 Freeways erfolgreich in Parks und menschenzentrierte Räume umgewandelt. Auch in anderen Teilen der Welt setzt der Wandel ein – 30 US-Städte diskutieren über den Rückbau von Stadtautobahnen, Portland und Rochester haben bereits erfolgreich rückgebaut.
Nur in Berlin wird weiter über den Rückbau obsoleter Stadtautobahnabschnitte diskutiert und sogar neue geplant und gebaut.
FAZIT
Die Privilegierung einer Mobilitätsform ist gesellschaftlich nicht mehr tragbar. Transformationsprozesse brauchen aber Visionen, Anreize, Zeit, Raum und Ressourcen: Gesellschaftliche Debatten, personelle und finanzielle Ressourcen für Experimente, Prozessgestaltung und Umsetzung – und vor allem den politischen Willen, die rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Privilegierung der Automobilität unterstützen, zu verändern und Pfadabhängigkeiten zu überwinden. Die Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Berücksichtigung von Klima- und Gesundheitsbelangen, weist in die richtige Richtung.